Die Frage nach der Willensfreiheit und die Suche nach dem Ich

Setzen wir voraus, dass die Frage nach der Willensfreiheit und die Suche nach dem Ich beginnen, wenn wir uns mit einer vergangenen Handlung von uns auseinandersetzen. Wir fühlen Reue über diese Handlung und sagen uns, dass wir „so nicht hätten handeln sollen“, oder wir fühlen Genugtuung und sagen uns, dass wir „nicht anders hätten handeln sollen“. In beiden Fällen stellen sich die Fragen, wer das Subjekt, das „Ich“, sei, an das sich jene damaligen Imperative richteten, und wie die damalige Entscheidung zur Handlung zustande gekommen sei.

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Die libertarianistische Position

Eine Antwort darauf, die eher der libertarianistischen Position in der Debatte um die Willensfreiheit zuzuordnen ist, zerlegt das Ich in mindestens zwei Teile, die prinzipiell vergleichbar mit den Seelenteilen Platons sind. Typischerweise gibt es dann einen Teil, der zu der moralisch oder pragmatisch schlechter beurteilten Handlungsalternative drängte, und einen Teil mit gegensätzlichen Antrieben. Die Entscheidung wird als Über- oder Unterlegenheit des besseren Teils interpretiert. Bemerkenswert ist auch, dass wir meistens entweder sagen, dass beide Teile unser Ich ausmachen bzw. „in unserer Brust wohnen“, oder dass wir uns vor allem mit dem besseren Teil identifizieren, indem wir sagen, er sei „unser eigentliches Ich“, der „Kern“ unserer Persönlichkeit.

Halten wir fest, dass es bei dieser Antwort zu einer unvermeidlichen Dissoziation des Ich in zwei handelnde, aktive Teile kommt, auch wenn sich letztlich nur ein Teil so durchsetzt, dass daraus eine objektive Handlung folgt. Gleichwohl sind beide Teile in der subjektiven, retrospektiven Selbsterforschung aktiv, da sie um die Entscheidung zur einen oder anderen Handlung ringen.

Die deterministische Position

Ein zweite, konkurrierende Antwort räumt zwar zunächst im Sinne der deterministischen Position ein, dass die Entscheidung zu einer Handlung kausal zwingend aus diversen Antezedenzbedingungen erfolgt sei. Das körperliche Subjekt der Handlung wird dabei als nahtlos in das kausale Gewebe des Weltganzen eingebunden gedacht. Gerade diese Einbindung untergräbt den Anspruch auf die privilegierte Perspektive eines „Ichs“. Gleichwohl ist gerade diese privilegierte Perspektive im subjektiven Erleben ja zweifelsohne gegeben und kann nicht schlichtweg bestritten werden.

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So muss es auch bei der zweiten Antwort zu einer Dissoziation des Ichs kommen, wobei hier allerdings ein aktiver, aber naturkausal determinierter Teil gegen einen theoretischen, passiven Teil steht, welcher das Handeln und insbesondere die Konsequenzen des Handelns seines Komplements „erlebt“, sie wohl auch als Teil seines gesamten „Ichs“ zu deuten vermag, aber in letzter philosophischer Strenge eher sagen müsste: „Es handelte in mir“ als „Ich handelte“.

Das Unbehagen in der letztgenannten, deterministischen Interpretation einer Entscheidung, die zu einer verwerflichen, schuldhaften und sanktionierten Handlung führt, rührt nun sicher nicht zuletzt aus dem Gefühl, als erlebendes Ich die Konsequenzen eines von diesem Ich losgelösten, eben dissoziierten und nicht beeinflussbaren Teils des Selbst nicht nur tragen, sondern auch annehmen zu müssen. Ebenso, wie eine ganze Person nicht die Verantwortung für eine Handlung übernehmen will, die ihr von äußeren Kräften aufgezwungen worden ist, mag hier der sich selbst bewusst erlebende Teil des Ichs nicht die Verantwortung für einen anderen Teil übernehmen, der sich zumindest in der philosophischen Reflexion als unbeeinflussbar erweist.

Fraglich ist allerdings, ob dieses Gefühl, welches die Ablehnung des Determinismus zumindest zum Teil motiviert, der Analyse standhalten kann: Wir werden sehen, dass die hier beklagte Dissoziation in den aktiven, aber determinierten und den theoretischen, passiven Teil des Ichs keineswegs eine Besonderheit jener ex post Betrachtung eigenen Entscheidens ist, sondern „eigentlich“ schon immer unserem jeweiligen Welt- und Selbstbezug zugrundelag.

There’s more to it!

Interessant, lesen, einarbeiten: https://www.ucl.ac.uk/~uctytho/dfwVariousKane.html

Narration und Kausalität

Was macht den Menschen fähig zur Kooperation?

Yuval Noah Harari1In: 21 Lessons for the 21 Century, chapter 17 („post-truth“), p. 272 verdanke ich die Einsicht, dass es Geschichten sind, die ein künstliches Zusammengehörigkeitsgefühl über die engen Grenzen von Familie und Freundschaft hinaus erzeugen und den Menschen so zur Kooperation befähigen.

Was aber treibt mich überhaupt zur Aktion an, unabhängig davon, ob ich sie mit anderen gemeinsam oder allein durchführe? Sagen wir, einen neuen Schlauch in einen Fahrradreifen einzuziehen. Es ist die Geschichte, die ich mir selbst bei der Handlungsplanung erzähle. Was macht diese Geschichte glaubwürdig und motivierend? Die kausalen Verknüpfungen in ihr, mithin die Vorstellung, dass meine spezifische Einwirkung auf die Welt zu dem gewünschten Zustand führen muss.

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Geschichten spielen auch eine Rolle bei dem Aufbau eines Selbstbildes. Albert Camus stellt in dem Roman „La chute“2Diesen Roman gelesen zu haben, kann ich leider nicht für mich beanspruchen; ich referiere hier die unterhaltsame Zusammenfassung, die Stephen West in seinem Podcast „Philosophize This!“ gegeben hat. dar, dass die Erschütterung dieses Selbstbildes einen Menschen stärker treffen kann als eine drastische Verschlechterung seiner objektiven Lebensumstände. Die Fiktion wiegt schwerer als die Realität, und das, obwohl wir Menschen physiologisch so sehr darauf angewiesen sind, dass in der Realität die Bedingungen unseres Weiterlebens und Wohllebens erfüllt sind.

Es dürfte also unmöglich sein, einen Menschen zu verstehen, ohne die Geschichten zu berücksichtigen, die er sich selbst über seine Handlungen und über seine eigene Person erzählt.

Diese fundamentale Bedeutung von Geschichten führt zu der Einsicht, dass auch die Kausalität eine Geschichte ist. Erst durch die Sprache geraten Antezedens und Konsequenz in den Zusammenhang, den wir als Kausalität kennzeichnen.

Further thoughts on that issue: The human being as a Bayesian predictor

Der Mensch begreift sich selbst und das Universum. Er fasst beides in Begriffen. Er weiß sowohl, dass er dem Universum gedanklich gegenüber steht, als auch, dass er tatsächlich aus dem Universum entstanden und somit ein Teil dessen ist. Er kann aber weder die Entstehung des Universums selbst noch seine Entstehung als die eines Wesens, welches zu diesem Verständnis fähig ist, erklären. Die Erklärung des ersteren würde einen Standpunkt außerhalb des Universums erfordern und ist deshalb unmöglich, die Erklärung des letzteren scheitert daran, dass …

Kausalität, also regelmäßige Zusammenhänge oder Abfolgen zu erkennen, ist der Mensch aufgrund seines Verstandes in der Lage. Denn der Verstand ist unter anderem eine Maschine zur Erzeugung statistischer Vorhersagen. Diese Vorhersagen fließen in die Wahrnehmung der Welt und in die Handlungsplanung ein.

Critique of Hume

The easiest case of causation is probably the example adduced by David Hume: One billard ball is hitting a second one, which is hitherto resting, and causes it to roll off. Hume, as is well known, argued that in watching these events we cannot avoid to understand the hitting of the balls, which we’ll call the event ec, to be the cause of the movement of the second ball, which event we’ll call ee. Although this relationship of cause and effect seems inevitable, Hume argued that our perception of it is in fact a misconception, as all we actually do perceive is a succession of events ec and ee, not its causal conjunction.

This is, of course, true. And yet it fails to take into account our intimate acquaintance with exactly this kind of mechanical causation: From early on, we are accustomed to push things or move them around. We know the feeling of exercising force on an object and the inertia of it that must be overcome, and we equally well know the feeling of being pushed. Thus when watching one object being pushed by another, we as young children probably generalize from our own experiences and the scene we behold to a general concept of mechanical force; later on, we get to know other types of force, so that we can form an even more general and abstract concept of causation.

Yet, as the word „apple“ is a generalisation of many concrete apples, and „fruit“ is a generalisation of many species of fruit, so „causation“ is nothing but a generalisation. On reflection, we know generalisations only take us so far. If a1 and a2 and a3 share common traits P1 and P2 and P3, so that we subsume them under a species A, it’s fair to predict that o1, having also the traits P1 and P2, will be of A and thus have trait P3, too. That’s a sound and rational assumption, but nothing guarantees that it will be like this.

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With causalities, it’s also sound and rational to expect that ceteris paribus from similar causes similar effects will occur. The predictive value of an established regularity in the natural sciences is much higher than that of pure guesswork, and yet, on reflection, we are well advised to acknowledge that it’s not as high as the absolute certainty which we can achieve in the demonstrable sciences, mathematics, geometry and logic. Still, regularities are the best tool we have for understanding, manipulating and predicting the outside world. To doubt them for no reason means to compel oneself to idleness, as we then have no way to predict the outcome of any action.

The question at this point is: Why didn’t this degree of certainty – considerably more than zero, slightly less than 100 percent – suffice for the philosophers?

Das Einzelne und das Allgemeine

Die europäische Philosophie schätzt das Einzelne nicht. Verblendet von der Macht der Sprache, die das nicht greifbare Allgemeine im Begriff zu fassen vermag, verwechselt die Philosophie seit jeher das Begreifen eines Einzelnen mit dessen Sein. So missrät ihr jeder Blick auf das Seiende zu dem Blick in ein Wörterbuch.

Was aber ist das Sein? Es ist die Absonderung eines Einzelnen aus dem Gewebe der Welt. Das Seiende ist das Abgesonderte. Die Absonderung aber braucht Kraft, um zu geschehen und um fortzubestehen. Diese Kraft wirkt sowohl nach außen, indem sie alles, was nicht zu dem Einzelnen gehört, abstößt, wie auch nach innen, indem sie dessen Teile zusammenhält.  Das Seiende ist also nicht selbstverständlich, sondern bedingt.

Skip those paragraphs if you like, you better do

Parmenides überschätzte das Allgemeine so sehr, dass es ihm zu einem Einzelnen wurde. Heraklit unterlag einem ähnlichen Fehler, indem er das Einzelne so überschätzte, dass es ihm zu dem Allgemeinen wurde. Weil sich aber beide offensichtlich darauf beschränkten, das Problem des Seins, nicht des Erkennens, lösen zu wollen, mussten ihre irrigen Ansätze der Bedeutungslosigkeit verfallen, sobald Platon die untrennbare Verknüpfung des Erkennens und des Seins in die Philosophie einprägte.

Der Vorrang des Allgemeinen vor dem Einzelnen ist bei Platon bekanntlich so groß, dass die Herausbildung eines Einzelnen aus dem Gewebe der Welt, das Werden von etwas, ihm als Verlust von Wirklichkeit gilt. Das Allgemeine ist wirklich Seiendes, das Einzelne nur dessen stets mangelhafter und flüchtiger Abklatsch. Was aber für das Erkennen zutrifft, dass jedes Einzelne vor dem Hintergrund der Welt nur hervortritt, wenn es sich als besonderer Fall eines Allgemeinen darbietet, stimmt für das Sein nicht. Seiendes entsteht aus Kraft, nicht aus einer allgemeinen Form. Die von außen und erst im Nachgang des Werdens erkennbare Form eines einzelnen Körpers ist ja gerade im Wechselspiel zwischen jener Kraft und den Einflüssen der Welt entstanden.

Diese Verkehrung der Verhältnisse behielt über Jahrhunderte ihre Gültigkeit. Mochte Aristoteles auch Einwände gegen Platons allzu schlichte Konzeption vom Verhältnis des Allgemeinen und des Einzelnen haben, so ließ er es dennoch an der notwendigen Entschlossenheit und Schärfe fehlen, um den ontologischen Vorrang des Individuums zu etablieren.

Erst die Nominalisten waren es, die einen mächtigen Einspruch gegen die Platonische Verkehrung der Verhältnisse einlegten. Unter ihnen ragt Wilhelm von Ockham hervor, der überhaupt erst wieder auf die Verknüpfung von Erkennen und Sein aufmerksam macht und sie auf dieser Grundlage dann auch kritisiert.

Und doch! Indem Kant das empirisch Seiende den Bedingungen des Erkennens unterwarf, schloss er nicht nur – wie schon Ockham – das Selbstwidersprüchliche aus dem Bereich des Seienden aus, sondern auch das Regelwidrige.

Was also bleibt dem Menschen, um sich seiner Individualität zu vergewissern? Anstatt sich radikal als Individuum, als Einzelner im Sinne Max Stirners zu verstehen, versteht er sich zunächst als Gattungswesen, verschüttet so seine Individualität und muss sie dann durch überflüssige Vergleiche mit anderen rekonstruieren.

Drei Staatsphilosophen und die Energiekrise

Jeder spart jetzt Energie, damit wir gemeinsam gut durch den Winter kommen.

Oktober 2022
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Wir fragten Aristoteles, Thomas Hobbes und John Locke, was sie von diesem Slogan halten, den man so oder ähnlich aus aktuellem Anlass häufig sieht.

Aristoteles: Natürlich geht es darum, gemeinsam Energie zu sparen. Weshalb gemeinsam? Das ist eine merkwürdige Frage, schließlich fragst du einen Regentropfen ja auch nicht, weshalb er abwärts fällt.

Sparsamkeit ist in der gegenwärtigen Situation aufgrund der Verknappung von Energie, insbesondere Heizenergie, eine Tugend. Daher ist das ihr gemäße Handeln sozial definiert und wird in sozialen Gruppen aus- und dadurch eingeübt. Wer sich der sozialen Gruppe angehörigt fühlt, akzeptiert damit zugleich die Geltung ihrer Tugenden. Es geht also nicht um die Frage, welches Anrecht auf eine bestimmte Energiequantität oder ein bestimmtes Heizverhalten der einzelne hat, sondern um die Frage, ob er sich tugendhaft verhält oder nicht. Hartnäckiger Widerstand einzelner Bürger gegen den Tugendkatalog der staatlichen Gemeinschaft läuft dem Ziel der Gesetzgebung, tugendhafte Bürger zu erziehen, zuwider und muss daher durch Bestrafung gebrochen werden 1“Punishments and penalties should be imposed on those who disobey and are of inferior nature” (EN X.9 1180a8–9).

Thomas Hobbes: Jeder einzelne möchte zu seiner persönlichen Behaglichkeit so viel Energie aufwenden wie möglich. Aufgabe des Souveräns ist es, durch Repression den Energiekonsum auf ein rationales Optimum zu begrenzen.

John Locke: Der individuelle Energiekonsum wird in einer Krisensituation nicht anders als zu normalen Zeiten durch den Marktmechanismus bestimmt. Das bedeutet, dass der Preis der Heizenergie zur Zeit steigt und daher die Konsumenten insgesamt weniger davon beziehen können. Da aber das Recht auf die freie Verwendung des eigenen Vermögens bestehen bleibt, kann es sein, dass wohlhabendere Menschen trotz hohen Preises weiterhin viel Heizenergie beziehen und damit zu einer weiteren Verknappung beitragen.

Die von meinen Kollegen Aristoteles und Hobbes vorgeschlagenen Lösungen scheitern beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Gegen Aristoteles ist einfach einzuwenden, dass seine in sich ohne Zweifel wünschenswerte Vorstellung eines tugendhaften Staatsbürgers in der Wirklichkeit nicht verlässlich ist, und auch durch die Androhung von Sanktionen nicht erreichbar ist.

Gegen Hobbes ist einzuwenden, dass die Exekutive ihre Rechte überschreitet, wenn sie in das wirtschaftliche Handeln der Bürger eingreift. Denkbar wäre allenfalls, dass sie auf der Grundlage eines behaupteten Notstandes handelt; einen solchen rechtfertigenden Notstand habe ich jedoch nur für Fälle vorgesehen, in denen die Legislative nicht rechtzeitig befragt werden kann 2„This power to act according to discretion, for the public good, without the prescription of the law, and sometimes even against it, is that which is called prerogative: for since in some governments the lawmaking power is not always in being, and is usually too numerous, and so too slow, for the dispatch requisite to execution; and because also it is impossible to foresee, and so by laws to provide for, all accidents and necessities that may concern the public, or to make such laws as will do no harm, if they are executed with an inflexible rigour, on all occasions, and upon all persons that may come in their way; therefore there is a latitude left to the executive power, to do many things of choice which the laws do not prescribe.“ Second Treatise on Government, Sec. 160. Was nun das Recht der Legislative betrifft, Gesetze zu erlassen, welche den Energiekonsum der Einzelnen drosseln, so wäre zu beweisen, dass solche Normen besser geeignet sind als der Marktmechanismus, um die gegenwärtige Krise zu überstehen.

Kausalität

Auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung werden wir im Alltag erst dann aufmerksam, wenn die Dinge nicht so verlaufen, wie wir es erwarten: „Verflixt, warum funktioniert das jetzt nicht?“ oder „Mist, was ist da nur schief gegangen?“ sind typische Ausrufe in solchen Situationen, mit denen wir mehr oder minder bewusst nach einer Ursache fragen.

different plates and vases on shelves and stone wall
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Warum ist das Regal mitsamt der teuren Porzellanvase umgestürzt? Wir wollen die Ursache herausfinden, um „bei dem nächsten Mal“ einen Sturz zu vermeiden. Denkbare Antworten auf unsere Frage lauten:

  1. Das Regal ist umgestürzt, weil es nicht an der Wand verankert worden ist.
  2. Es ist umgestürzt, weil es überhaupt aufgestellt worden ist.
  3. Es ist umgestürzt, weil wir ein Buch zu viel hineingestellt haben.

Intuitiv ist die erste Antwort am aussagekräftigsten, um zukünftige Stürze zu vermeiden und damit unseren Absichten zu dienen. Der entsprechende Grund, also das Unterlassen einer sachgerechten Verankerung, ist etwas, das durchaus in unserer Macht liegt. Es ist derjenige Grund, den wir vermutlich als „Lehre“ aus dem Unfall und seiner gedanklichen Aufarbeitung ziehen sollten.

Allerdings ist es nicht unbedingt der Grund, welcher dem zu erklärenden Ereignis des Sturzes zeitlich und räumlich „am nächsten“ lag. Diesen Vorzug hat die Erklärung mit dem überzähligen Buch. Sie erfüllt die drei Kriterien, welche David Hume1Abstract of the Treatise of Human Nature: http://www.earlymoderntexts.com/assets/pdfs/hume1740.pdf an eine kausale Verknüpfung zwischen A (Ursache) und B (Wirkung) stellt:

  • Zeitliche und räumliche Nähe von A und B
  • Zeitliche Vorgängigkeit von A vor B
  • Konstante Verbindung von A-artigen und B-artigen Ereignissen
David Hume

Eine der Schwierigkeiten mit Humes Reduktion der Kausalität auf die drei Faktoren „contiguity, priority and constant conjunction“ ist zu bestimmen, was genau A-artige Ereignisse sind. Üblicherweise erleben wir in einem Menschenleben nur so wenige Stürze von Regalen oder Schränken, dass die geforderte konstante Verbindung zwischen dem Auflegen eines Buches und dem Sturz rein quantitativ nicht besteht; vielmehr gehen wir schon bei einem einzigen Sturz eines Schrankes, also ohne einschlägige Vorerfahrungen, davon aus, dass das Auflegen des Buches ursächlich dafür war. Die von Hume geforderte konstante Verbindung lernen wir also nicht zwischen Büchern und Schränken, sondern zwischen allgemeineren Arten von Ereignissen kennen, z. B. zwischen dem Auflegen irgendeiner Masse auf einen Körper in einem labilen Gleichgewicht und dessen Umkippen.

Was jedoch macht das Ereignis A zu einem A-artigen Ereignis? Anders gefragt: Warum führt nicht jedes riskante Auflegen eines Buches zum Umkippen? Boden- und Sockelbeschaffenheit, Wandverankerung, Lastverteilung und Schwung dürften Faktoren sein, die das Umkippen mitbestimmen. Was soll, angesichts so vieler Faktoren, die Rede von einem „A-artigen“ Ereignis? Ob ein Ereignis A‘ tatsächlich A-artig ist oder nicht, lässt sich kaum prognostizieren, sondern nur ex post am Ergebnis ableisen. Dann aber ist das Hume’sche Kausalitätskriterium zirkulär und damit hinfällig: Kausalität wird auf constant conjunction zurückgeführt, die Glieder jener conjunction lassen sich aber nur an Kausalität ablesen.